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Am Ende eines jeden Tages (German Writing)

Am Ende eines jeden Tages
(Stadtgeschichten)
[German Writing]
Blue Hour
Und ich frage mich, ob ich nicht doch auch in einer Großstadt hätte leben können, oder wollen. Zumindest in einer wie dieser, in der ich wohl Abend für Abend durch Straßen und über Brücken spaziert wäre, um am Ende doch stets hierher zu gelangen und still und alleine auf die Stadt hinunter zu sehen und auf die Nacht zu warten. Alleine, das sicherlich, aber auch einsam? Doch, ich könnte mich hier sehen. Zumindest in jenem Abschnitt, in dem ich aus dem unbekannten Anderen – meiner Unterkunft, dem zurückliegenden Tag – hinaustrete, ins Sichtbare, mir jetzt Bekannte, eben jene letzten Meter des Einsam-und-verloren-Dahingehens, bis ich an diesen Ort über der Stadt gelange.
[2021/03/02, Porto]

Eine Stadt, und ihre Lichter, sind für mich am Ende eines jeden Tages immer am Schönsten gewesen. Mit etwas Glück, darin ein bestimmter Moment, der wohl jenen vorbehalten ist, die nicht nur zugegen sind, sondern auch ein Inneres aufweisen, das überhaupt dafür empfänglich ist. Die eben noch in den Farben des Sonnenuntergangs leuchtenden Wolken werden blass, und auch die Stadt darunter scheint ihre Farben einzubüßen. Ins einstige Orange am Himmel mischt sich langsam ein zarter Grauton, der am Horizont scheinbar von unten immer weiter nach oben wandert und dabei mehr und mehr die Farben verschlingt. Während Straßenlaternen und erste Fenster zum Leben erwachen, wandelt sich das Licht weiter und weiter. Der Himmel, schließlich ein Bläuliches. Blaue Stunde nennt man das. Doch eigentlich dauert sie, die für mich schönste Zeit des Tages, nur wenige Minuten an. Eine Zeit, vielleicht mehr Nacht als Tag. Ein scheinbar Unentschlossenes, ein Zwischen-dem-einen-und-anderen-Sein. Darin, verstreut in alle Richtungen, mal fern, mal nah, Orange, Gelb, hier und da etwas Weiß, das Rot der Rücklichter und Ampeln, Grün der Apotheken oder das zuckende Blau der Sirenen. Trotz der Lichter und fernen Geräuschen scheint es für einen Moment stiller geworden zu sein. Es scheint, als würde die Welt nun kurz Verschnaufen, ein letztes Luftholen vor all den Nachtschwärmern, die nun hinaustreten und durch die Straßen wandern werden. Wenn dies die schönsten Minuten des Tages sind, habe ich mich manchmal gefragt, wieso muss ich dann all die anderen Stunden des Tages ebenso sein, wenn ich doch eigentlich nur jetzt existieren will? Aber vielleicht wäre all das nicht, wenn es nicht nur von so kurzer Dauer wäre und mir mein Warten so schwerfallen würde, rufe ich mir in Erinnerung. Und vielleicht, vielleicht musste ich deshalb ebenso lange warten, bis wir uns endlich gefunden haben. Weil das eine ohne das andere nun einmal nicht sein kann.

Erst vor wenigen Wochen sind wir uns hier das erste Mal begegnet. Gut, begegnet waren wir uns, wer kann das schon wissen bei all den Menschen, vielleicht sogar schon einmal zuvor. Aufgefallen sind wir uns. Du mir, und ich Dir. Ein Aussichtspunkt über der Stadt, steinerne Bänke, das eiserne Geländer zu zwei Seiten, die Friedenskirche, weit darunter der Fluss mit seinen Biegungen. Darüber, eine Bogenbrücke, die Nord und Süd miteinander verbindet. Und die Stadt, die vom Horizont bis über den Rand hinunter zum Fluss reicht. In Jahrzehnten und Jahrhunderten unzählige Gebäude scheinbar wahllos in- und übereinander gebaut. Alte Speicher, Kirchen, Ruinen, eine Polizeiwache, das Konsulat. Wir beide jeweils in Begleitung, habe ich Dich dort hinten stehen sehen. Mit jedem Blick, den ich Dir zuwarf, schienen Deine Gestern müder und müder geworden zu sein. Du hast in die Ferne gezeigt, mal hier, mal dorthin, und ich hatte mich unweigerlich gefragt, was Du wohl zu erzählen hast. Deine Begleitung schien mehr an ihrer Uhr als an Deinen Gesten interessiert und so blieben Deine Hände irgendwann in den Taschen, so als wollten oder konnten sie nichts mehr zeigen. Vielleicht lag es auch an dem, was man zu Dir gesagt oder gerade nicht gesagt hatte? Man sprach mit mir, und ich hörte schweigend zu. Später hast Du mir gesagt, es hätte so ausgesehen, als hätte man sich von mir getrennt. Als wir gingen, sah ich Dich noch immer dort stehen, etwas in Dir versunken, die Freude aus den Augen gewichen. Ich nickte Dir zu, deutete vage ein Lächeln an. Am nächsten Tag sahen wir uns wieder, nun beide alleine. Das erste, was Du zu mir gesagt hattest, war wie froh Du darüber seist, dass wir, als Träumer, die wir wohl beide zu sein scheinen, nach alter Manier von "selber Ort, selbe Zeit" ausgegangen waren. Nur glücklicherweise auch gleich für den nächsten Tag. Denn möglich sei ja auch ein Monat, ein Jahr, oder, für die ganz Verzweifelten, zehn Jahre. Und überhaupt, dass unsere scheinbar stille Übereinkunft tatsächlich eine war und nicht doch nur die Spinnerei, Träumerei eines Einzelnen. Oder, und damit endete Dein Redefluss, sei es vielleicht doch Zufall, gar keine Absicht gewesen? Du es also, der sich gerade furchtbar peinlich macht und mich hier einfach so anspricht. "War es doch, oder?", fragtest Du mich mit großen Augen. Da lachte ich und entgegnete, dass ich jetzt ohnehin jeden Abend hier auf Dich gewartet hätte. Ganz gleich, ob für eine Woche, oder ein Jahr. "So einer bist Du also", hast Du da erleichtert und etwas schüchtern lächelnd gesagt.
Before Sunset
Seitdem haben wir uns fast an jedem Abend hier gesehen. Deinen Namen kenne ich nicht; und auch eine feste Zeit haben wir nicht ausgemacht. Kurz vor Sonnenuntergang, manchmal auch in der Dämmerung. Manchmal kommst Du etwas zu spät, an Deinen Kleidern und dem etwas gehetzten, erschöpften Ausdruck in Deinem Gesicht kann ich erkennen, dass es im Büro länger geworden war. Einmal waren es zwei ganze Tage. Da dachte ich schon, Du kämst gar nicht mehr. Stattdessen hast Du dann am dritten Tag schon auf mich gewartet, saßt alleine, eine riesengroße Entschuldigung im Gesicht, im Nieselregen, eine Leckerei von einer der kleinen Bäckereien hier ganz um die Ecke in den Händen. Gelächelt habe ich, unendlich erleichtert. Nicht, dass es etwas zu entschuldigen gäbe, eher besorgt um unsere Zeit. Während wir hier stehen, die Nacht wieder und wieder dem Himmel seine Farben nimmt und scheinbar selbst der Fluss zur Ruhe kommt, sprechen wir über das Leben. Du erzählst von Freunden, der Arbeit und den Kollegen, Ängsten und Sehnsüchten. Ich von früheren Reisen, Momente, die mir beim Umherstreifen in der Stadt aufgefallen sind. Ein verborgener kleiner Garten, in den ich über eine Mauer hinweg verstohlen einen Blick warf, eine Parkbank unter blühenden Kirschbäumen, eine zwielichtige Gasse, die ich eiligst wieder verließ, ein Zusammenstoß mit einem alten Herrn, der ebenso wie ich ganz versunken ein Selbstgespräch geführt hatte. Manchmal schweigen wir auch. Vielleicht weil uns nicht mehr nach Reden zumute ist oder wir’s auch nicht können. An jenen Tagen kann ich in mir spüren, wie diese wenigen Worte einen langen Weg zurücklegen. Dass sie im Inneren umherwandern, bis sie endlich herausbrechen, ein wenig unbeholfen, so als müsste ich das Sprechen erst wieder erlernen. Und doch tut es gut hier zusammen zu sein, für diese wenigen Minuten am Abend, und in der Nacht.
Where We Once Stood Silently
Wenn wir hier stehen, kommt es mir beinahe universell vor. Dann betrachte ich uns beide gedanklich von oben. Wir beide nebeneinander, die Stadt weit vor und unter uns. Könnten wir nicht genau so auch in jeder anderen Stadt sein? Vor und hinter meinen Augen fällt dann all das zusammen und ich ziehe still andere Täler und Flüsse, Brücken und Häuserschluchten um uns herum hoch. Und eigentlich könnten doch auch wir beide beliebig sein, könnten ebenso zwei andere sein, die sich einander nichts als ein wortloses Versprechen über Zeit und Ort gegeben haben. Und jetzt erinnere ich mich, und erzähle Dir davon, dass es sich früher manchmal so angefühlt hat, als wäre die Zeit an mir und um mich herum heruntergefallen. So als könne oder wolle die Welt sie nicht mehr in den Händen halten. Mir war dann immer, als spürte ich die Traurigkeit der ganzen Welt. So als bliebe, wenn die Zeit einmal nicht mehr ist, nichts als Traurigkeit. Und wie ich Dir davon erzähle, drückst Du, ganz sachte, meine Hand.
They Move On Tracks Of Never-ending Light
Auch wenn es manchmal so scheinen mag, steht die Zeit in Wahrheit doch niemals still. Das Tiefblau des Himmels weicht unaufhaltsam dem Schwarz der Nacht. Die verbleibenden Lichter verschlingen mehr und mehr die letzten Details im Dämmerlicht, lassen sie verschwinden im nun Ungewissen. Stattdessen die Wolken, die nun wieder orange aufleuchten. Nicht von Sonnenuntergang und Dämmerung, sondern der Stadt selbst. Wir steigen hinunter, spazieren über die eiserne Brücke hinweg. Genau in ihrer Mitte bleiben wir dann manchmal stehen. Ein letzter Läufer eilt an uns vorüber, eine alte Frau mit einer viel zu schweren Einkaufstasche, lautes Stimmgewirr einer Gruppe von Freunden. Manchmal reichst Du mir hier Deine Kopfhörer und willst mir ein Lied zeigen, dass die Stadtgeräusche, oder vielleicht sogar ein wenig das ganze Leben, verschwinden und doch auf ganz andere Art und Weise wieder erklingen lässt. In Deinen Augen kann ich dann immer erkennen wie sehr Du hoffst, dass auch ich höre, was Du darin hörst. Nicht die Melodie, die jeder hören könnte, sondern das, was dahinter liegt. Manchmal, glaube ich, gelingt uns das. Und manchmal nicht. Enttäuscht scheinst Du nie darüber zu sein und doch ahne ich, wie sehr es Dich freut, wenn wir Erfolg haben. Und wenn ich dann lächle, und Du siehst, dass ich Dich dabei ertappt habe und diese Verletzlichkeit offen liegt, wendest Du Dich etwas verlegen von mir ab. Du siehst hinunter, auf den Fluss und Hafen, und tust es mit einer jenen schnippischen Bemerkungen ab, die Dir so eigen und mir längst ans Herz gewachsen sind. Eine Straßenbahn fährt vorüber, ich ziehe Dich zur Seite, Du hast sie nicht kommen hören. Wir lachen, erleichtert. Manchmal passiert Dir das, ein Blick in die Ferne, der sich darin verliert und zurückgeholt werden muss. Wer tut das, wenn ich nicht da bin, frage ich mich dann.

Kurz dahinter, am Theater und der alten Kapelle vorbei, verschwinden wir schließlich beide in einer der Straßenbahnen. Ein jeder in einer anderen Richtung. Hinterhergefahren bin ich Dir nie, weiß weder wo Du wohnst, noch ob Du alleine lebst. Die Abschiedsumarmungen fallen mir schwer. Mal lange, mal kurz, mal innig, manchmal auch flüchtig und fern, habe ich doch begonnen mich daran zu gewöhnen, manchmal gar danach zu sehnen. Manchmal will ich Dich sogar am liebsten festhalten. Ich, dem Du einmal sagtest ich solle bitte so tun, als würde es mir überhaupt gefallen. Und doch ist, wenn wir uns voneinander verabschieden, auch das Gefühl, dass etwas zwischen uns steht. Ich schweige dann, und mustere Dich. Dein Gesicht steht still, zu Anfang zumindest, und nach und nach zeichnen sich ganz verschiedene Eindrücke darin ab. Nicht selten kommt es mir so vor, als könnte ich weit mehr darin erkennen als das, worüber wir an diesem Abend gesprochen hatten. Du musterst mich ebenso, mich, von dem Du einmal sagtest ich hätte ein Papiergesicht. Eines, das immergleich ist. Immer dann will ich daran glauben, dass Du doch mehr darin kennen kannst. Am Ende steht dann manchmal ein Lächeln, das nichts erklärt und es doch tut, oder ein Blick zur Seite, der eigentlich ebenso wenig beantwortet und doch keine Fragen mehr zulässt. Vielleicht steht auch etwas über, statt zwischen uns. Ein wenig wie die Sterne und Satelliten, die still und stetig über uns kreisen. Denn über eines haben wir nie gesprochen: Wir, das Uns. Ob es uns beide nur so geben kann, spät am Abend über der Stadt. Und ob es aufhören muss, oder gar nicht anders kann. Denn auch Träume erschöpfen sich manchmal an der Wirklichkeit und kommen nicht über sie hinaus. Aber vielleicht, vielleicht ist da auch mehr. Auch wenn wir dann Gefahr laufen etwas anderes zu verlieren, vielleicht sogar alles. Wenn wir damit beginnen den Dingen Namen zu geben, ihnen die Bedeutung beizumessen, die sie doch eigentlich und insgeheim längst haben. Wenn ich nun etwas sage, vielleicht lächelst Du mich dann traurig ein letztes Mal an, bist vielleicht enttäuscht oder gar etwas wütend. Verschwindest im Strom der anderen, mit der Bahn um die Ecke, hinein in die Ewigkeit. Dann ist dieser Ort gestorben, zumindest für einen von uns beide. Weil, wie wäre das schon, dorthin alleine zurückzukehren? Den anderen nicht mehr zu sehen, oder vielleicht sogar ebenso alleine wie man selbst, oder gar mit jemand anderem? Jemand, der vielleicht schon immer dagewesen ist. Vielleicht gibt es auch gar nichts, worüber man jetzt reden müsste. Doch in einem anderen Leben hat man mir mal gesagt, man müsse sich vorwagen, um herauszufinden, woran man sei. Du warst das. Also frage ich Dich, ob Du Hunger hättest. "Nein", sagst Du, während Dein Gesicht zur Ruhe kommt, "aber Du kannst mir trotzdem gerne zeigen wo Du lebst und nachts traurig aus dem Fenster siehst und dabei an mich denkst". Wir lachen. "Und Du, musst Du heute nirgendwohin?", frage ich mit klopfendem Herzen. "Nein, heute nicht", sagst Du da.

Eine der zahllosen Gassen der Altstadt, darin über Kopfsteinpflaster schließlich hinein in den alten Hausflur. Die Stiegen hinauf, die Kacheln an den Wänden längst zerschlagen, die Stiege durch tausende Fußtritte ganz ausgebeult. Dort oben, mein kleines Zuhause. Etwas Licht fällt zu uns herein, die wir ein wenig schüchtern, ungewohnt der neuen Nähe, hier beieinanderstehen. Vor den Fenstern vereinzelt die Schritte anderer, Türenschlagen, das Klappern von Töpfen, Wäsche, die eilig hereingeholt wird. Es riecht nach Sommerregen. Ein Tröpfeln zwischen verlegenen Pausen und Blicken, schließlich prasselt es. Der Regen geht über in ein stetes Rauschen und tritt, jetzt wie er gleichbleibend ist, selbst in den Hintergrund und verschluckt damit ebenso all die anderen Stadtgeräusche. Ich glaube der Regen vor dem Fenster fällt nicht länger allein für mich. Der Blick zum Fenster hinaus, zwischen Träumen und Sehnsucht, ganz da hinten, in Miniaturgröße über Dächern, Gauben und Türmen, auch jener Ort, an dem wir uns Abend für Abend trafen. "Von hier könntest Du uns ja sehen", sagst Du. "Schön, oder?", entgegne ich, schweige und sage schließlich, "Und Du, kannst Du uns jetzt nicht auch dort stehen sehen?".

Auch das Ende eines jeden Tages ist doch eigentlich nur der Beginn einer Nacht. Und die wiederum der Anfang eines weiteren Tages. Auch wenn es nicht immer so scheint, und man manchmal im Gestern aufzuwachen glaubt, ist’s doch wahr. Hier bei uns kennt die Zeit nur eine Richtung. Und wir beide jetzt auch, ganz gleich, was kommen mag.

2021/03/02
Am Ende eines jeden Tages (German Writing)
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